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Der vielsprachige Badener und gelernte Sachse Matthias Theodor Vogt mit Geburt in Rom und Studium in München, Paris und Berlin fühlt in seinen Analysen wie nur wenige den Puls gesamtdeutscher Befindlichkeiten. Seine aktuelle Studie will herausfinden, wie die Deutschen zu Grundkonsensen, Verbindungen, Zusammenhalt, ja Loyalität zurückfinden können. „Ankommen in der deutschen Lebenswelt“ ist eine Schrift, nach deren Lektüre man den Kulturhistoriker Vogt ermutigen möchte, sich um das Amt des Bundespräsidenten zu bewerben. Da es immer noch keinen Kandidaten gibt, sollte man den 57-jährigen Direktor des Görlitzer Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen unerschrocken ins Auge fassen.

Die Studie setzt da an, wo im letzten Jahr die Parteien des demokratischen Spektrums – Union, SPD, Grüne, FDP und verfassungstreue Teile der Ost-Linken – aber auch Gewerkschaften und die beiden Großkirchen daran scheitern, eine nicht-eifernde Analyse der Entfremdung jener 70 Prozent der Bevölkerung vorzunehmen, die in Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnern zuhause sind. Was immer sie auch umtreibt, sie wollen weder Menschen in Gaskammern schicken, noch in Nachbarstaaten die Einwohner massakrieren, um dort für ihren eigenen Nachwuchs Lebensraum zu gewinnen. Sie sind mithin gerade keine hitleristischen „Umvolker“. Sie mit solchen gleichzusetzen, schafft lediglich eine irrwitzige Verharmlosung der Vergangenheit und eine nachhaltige Vergiftung der Gegenwart.

Sie gehören aber auch nicht zu anonymen großstädtischem „Wachstumskernen“, die permanent in der globalökonomischen Konkurrenz bestehen müssen, weshalb sie für das nähere Umfeld keine Empathie mehr aufbringen. Wer die Mehrheit im Land nur mit gestrigen Etiketten zukleistert, verfehlt die Gründe der Wahlerfolge einer Marine Le Pen im parisfernen Roussillon genauso wie den Aufstieg der AfD auf den schönen Ostseeinseln.

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Schuld trägt die Geringschätzung kultureller Parameter

Die Kosten für die professionelle Seite eines solchen Instituts wären mit einem Dutzend Historikern und ebenso vielen Doktoranden sowie den erforderlichen Informatikern erschwinglich. Angehängt an die erfahrene und hochvernetzte Universitätsbibliothek Leipzig entsprächen sie den Millionen, die der Freistaat jährlich für seine Außen-Kampagne „So geht Sachsen“ vergeudet.

Die Frage, warum Dresden nicht erst einmal Geld für eine Binnen-Kampagne gibt, über die Sachsens Bürger alle Facetten ihrer Vergangenheit annehmen können, hat bei Vogt eine klare Antwort: Schuld trägt die Geringschätzung kultureller Parameter durch einen vorrangig technisch-effektiv betriebenen Staatsaufbau, der die gewordenen Prägungen der Menschen als zu amputierende Störung registriert. Wer Heimatverbundenheit belächelt oder gar dämonisiert, darf sich über die Entfremdung wachsender Bevölkerungsanteile nicht wundern. Vogt plädiert deshalb nachdrücklich dafür, die Chancen von Kunst und Kultur auch für die Menschen auszuschöpfen, die bereits in Deutschland leben, damit sie die Parameter des Grundgesetzes als Pfund erkennen, mit dem auch im Kleinen gewuchert werden kann.

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Gäbe es eine vornehmere Aufgabe für einen Präsidenten? Bundes- und Landesregierungen mit ihrem systemisch notwendigen Parteienhader sind, wie das vergangene Jahr gezeigt hat, damit heillos überfordert. Auch der gegenwärtige Präsident, der sich lediglich einem politisch korrekten Parteiendurchschnitt anschließt, bleibt weit unter seinen Möglichkeiten.

Die Bundesrepublik bedarf der „fences of peace“ aber auch im Außenverhältnis. West und Nord, Süd und Ost. Sie kann nur im Einklang mit ihren nahen Nachbarn und der übrigen Welt Richtung Frieden und Wohlfahrt steuern. Angesichts der Debakel bisheriger Entwicklungspolitik wünscht Vogt sich eine erste „Eine-Welt-Universität“, in der die Grundstrukturen für erfolgreiches Wirtschaften genauso ernst genommen werden wie sinnstiftende Erfordernisse des Zusammenlebens jenseits davon (S. 393 ff.). Es ist in der Tat erstaunlich, dass die föderalen Wissenschaftsstrukturen Deutschlands, Österreichs, der Schweiz oder auch Luxemburgs eine solche Einrichtung fürs Ganze bisher nicht hervorgebracht haben. Wie wäre es mit einer gemeinsamen Schirmherrschaft der deutschsprachigen Staatspräsidenten für eine solche Welt-Universität?

Im globalen Kontext wird die „deutsche Lebenswelt“ ungeachtet aller Exporte allerdings immer unauffälliger und damit auch wirkungsloser. Nicht einmal 0,1 Prozent der Erdoberfläche und gerade mal ein – besonders vergreistes – Prozent der Menschheit begrenzt seine Handlungsmöglichkeiten. Warum da nicht wenigstens zu einem intellektuellen Vorhaben finden? Vogts Vorschlag wäre zukunftsorientiert und, gewiss, idealistisch, aber durchaus machbar. Man wünschte, dass er sich dabei auch ganz persönlich beweisen dürfte

Ankommen in der deutschen Lebenswelt. Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt. Europäisches Journal für Minderheitenfragen Vol. 9 No. 1-2 2016, Berliner Wissenschafts-Verlag 2016. ISSN Print: 1865-1089, ISBN (E-Book) 978-3-8305-2975-0, ISSN Online: 1865-1097, ISBN: 978-3-8305-3716-8. EUR 78,10.

Matthias Theodor Vogt, Erik Fritzsche, Christoph Meißelbach mit Beiträgen von Siegfried Deinege, Werner J. Patzelt, Anton Sterbling und zahlreichen Verantwortungsträgern in Wirtschaft, Politik und Kultur. Geleitwort von Rita Süssmuth und Nachwort von Olaf Zimmermann.

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